Giesing ist bekannt für Fußball und Bier, doch was den Stadtteil so besonders macht, ist die bunte Vielfalt an Architektur, Kultur und Menschen. Über ein Viertel, das sich das Dörfliche bis heute erhalten hat.
Wenn die Einheimischen von Giesing sprechen, dann meinen sie die beiden Stadtteile Obergiesing und Untergiesing. Wie der Name schon vermuten lässt, befindet sich Obergiesing auf dem Giesinger Berg, Untergiesing erstreckt sich dagegen bis hinunter zu den Isarauen. In den Köpfen ist Giesing immer noch ein zusammengehöriges Viertel, obwohl es bereits 1936 in die offiziellen Stadtbezirke 17 „Obergiesing-Fasangarten“ und 18 „Untergiesing-Harlaching“ unterteilt wurde.
Inoffiziell gehört aber alles noch zum Viertel – außer vielleicht Harlaching, das ist die wohlhabende Villengegend, eingebettet zwischen dem grünen Perlacher Forst und dem ruhigeren Isar-Teil südlich des Flauchers. Und davon will sich Giesing natürlich abgrenzen, denn der Stadtteil ist seit seiner Gründung als waschechtes Arbeiterviertel bekannt.
Hier geht man am Samstag mit seiner Jahreskarte ins Grünwalder Stadion, wenn 1860 München spielt, trinkt davor seine Halbe in einer der alteingessenen Boazn und feiert danach in der bunten Tegernseer Landstraße. Auch, wenn es beim TSV 1860 nicht mehr ganz so oft etwas zu feiern gibt wie früher. Das macht aber nichts, Giesing ist ehrlich und bodenständig. Ein Viertel, das sich treu geblieben ist.
Kleine Herbergshäuschen, charmante Kneipen: Das Dörfliche hat sich Giesing bis heute erhalten.
Giesing hat schon einige Jahrhunderte auf dem Buckel – und sich aus jeder Epoche etwas behalten: Da sind die Herbergshäuschen, in denen früher noch die Tagelöhner wohnten, die schon seit dem Mittelalter für Bauprojekte wie das Alte Rathaus nach München kamen. Da ist die McGraw-Kaserne, in der nach dem Zweiten Weltkrieg die amerikanischen Soldaten stationiert waren. Und da sind die charmanten Kneipen aus den 80er-Jahren, die heute noch ganz genauso aussehen wie damals.
Obergiesing wurde bereits im Jahr 790 als „Kyesinga“ erstmalig erwähnt und ist somit knapp 400 Jahre älter als München selbst. Untergiesing entstand dagegen erst im 19. und 20. Jahrhundert, als die Arbeiter und Tagelöhner, die sich schon früh rund um die Heilig-Kreuz-Kirche ansiedelten, immer weiter südlich und damit in den unteren Teil des Viertels zogen. Das Dörfliche hat sich Giesing bis heute behalten – zum Beispiel in der Feldmüllersiedlung in der Oberen Grasstraße, bei den Herbergshäuschen am Auer Mühlbach oder rund um die niedliche Sommerstraße.
Ende des 19. Jahrhunderts wurde unweit vom Giesinger Bahnhof die Strafanstalt Stadelheim erbaut, die vor allem durch die Hinrichtungen in der NS-Zeit traurige Berühmtheit erlangte. Auch die Mitglieder der Weißen Rose wurden hier gefangen gehalten. Ihre Gräber kann man heute noch auf dem Friedhof am Perlacher Forst in Obergiesing besuchen. Berühmte Gefangene der Justizvollzugsanstalt waren unter anderem Adolf Hitler und Beate Zschäpe.
Obergiesing wurde bereits im Jahr 790 als „Kyesinga“ erstmalig erwähnt und ist somit knapp 400 Jahre älter als München selbst.
In dieselbe Zeit fällt die McGraw-Kaserne, allerdings mit schöneren Erinnerungen verknüpft. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg siedelten sich hier die US-Soldaten an und brachten ein Stück Amerika nach München. Es entstanden ein Einkaufszentrum, Bowlingbahnen und eine Universität. Auch Einheimische arbeiteten und feierten hier – es fand sogar ein „Little Oktoberfest“ für die Amerikaner statt.
Wer in Giesing aufgewachsen ist, der ist meist auch seit Generationen treuer 1860-Fan. Das Stadion an der Grünwalder Straße gibt es bereits seit 1925 – zuvor hatten die „Sechzger“ sowohl am Flaucher als auch an der Theresienwiese trainiert. Im Krieg zerstört, wurde das Stadion danach wieder aufgebaut und 1937 an die Stadt verkauft, weil der Verein finanzielle Schwierigkeiten hatte. Bis zur Eröffnung des Olympiastadions 1972 war es die bedeutendste Sportstätte in München, noch heute ist das Grünwalder das drittgrößte Fußballstadion der Stadt.
Der Fußball lässt sich in Giesing aber nicht nur im Stadion finden: Einige Boazn sollte man besser nur betreten, wenn man ein „Blauer“, also Fan von 1860 ist. Denn obwohl der FC Bayern auch seinen Hauptsitz und sein Trainingsgelände im Viertel hat, ist der berühmte Fußballverein hier lange nicht so gerne gesehen. Giesing ist eben blau und das sieht man, sobald die „Sechzger“ spielen, denn dann liegt manchmal sogar ein blauer Nebel über dem Viertel.
Ebenso eng verknüpft mit dem Viertel wie der Fußball ist auch das Bier – und die dazugehörigen Kneipen. Zum einen ist Giesing für seine immer noch recht hohe Dichte an Boazn bekannt, obwohl großartige Adressen wie die „Bierschänke Bauerngirgl“ oder der „Pils-Hahn“ in den letzten Jahren zugemacht haben. Die Boazn ist eine besondere Form der Münchner Kneipenkultur und bezeichnet ein in die Jahre gekommenes, daher aber auch recht gemütliches Lokal, das vor allem von Stammgästen und originellen Besitzern lebt.
Besonders bekannte und noch erlebbare Exemplare im Viertel sind zum Beispiel die „Giasinga Schlümpfe“ oder „Die kleine Kneipe“. Aber auch junge Betreiberinnen und Betreiber versuchen die Boazn-Kultur aufrecht zu erhalten und eröffnen hippe Adressen wie das Altgiesing, Bumsvoll oder Riffraff. Wer mehr über das Thema erfahren möchte, holt sich eines der „Munich Boazn“-Bücher von Kneipen-Experte Maximilian Bildhauer oder schaut den Film „Hinter Milchglas und Gardinen“ von Johannes Boos.
Das Viertel ist aber auch über alle Grenzen hinaus für sein Bier bekannt, seitdem es das Giesinger Bräu gibt. 2006 fing alles natürlich in einer Garage in Untergiesing an. Mittlerweile kann man im eigenen Wirtshaus in Obergiesing nicht nur frischgezapftes Bier trinken, sondern auch fantastisch essen. Die kleine Brauerei mit der Heilig-Kreuz-Kirche im Logo hat nun außerdem in den Münchner Norden expandiert und könnte sich sogar ein eigenes Wiesn-Zelt vorstellen.
Was die Menschen an ihrem Viertel schätzen, ist die Vielfalt – bei der Architektur, den Einheimischen sowie den Lokalen. Und diese Vielfalt kann man nirgendwo besser erleben als in der Tegernseer Landstraße, auch liebevoll „TeLa“ genannt. Hier isst man im Ein-Sterne-Restaurant Gabelspiel ganz wunderbar zu Abend und trinkt danach im lässigen Biergarten vom Giesinger Grünspitz noch bis spät ein Bier. Gianluca aus dem Ambar Bistro bringt mit seinen Fleischbällchen und dem hausgemachten Limoncello ein Stück Neapel ins Viertel. Oder man probiert gleich gegenüber bei Betreiber Hieu vom Bep Ho echte vietnamesische Banh Mi und Pho.
Die Tegernseer Landstraße beherbergt Boazn und Bio-Supermärkte, den schicken Weinladen neben dem alten Waschsalon. Diese Straße ist echt, sie ist natürlich gewachsen und sie verändert sich stetig.
Man fühlt sich an der vielbefahrenen Straße zwischen Tram und Sirenen wie in der Großstadt oder spaziert ganz alleine über den ruhigen Ostfriedhof. Man isst eine Leberkassemmel im griabigen „Café Schau ma moi“ oder kauft sich ein Eis in der Eisdiele Riviera, die schon über 40 Jahren alt ist. Die Tegernseer Landstraße beherbergt Boazn und Bio-Supermärkte, den schicken Weinladen neben dem alten Waschsalon. Diese Straße ist echt, sie ist natürlich gewachsen und verändert sich stetig. Hier kann man die Anonymität der Großstadt genießen, sobald man aber in die kleine Kiesstraße oder Gietlstraße einbiegt, fühlt man sich plötzlich wie auf dem Dorf.
Wer Fernweh hat, der setzt sich an den Schmederersteg und beobachtet die Züge, die Richtung Italien fahren, oder besucht das orientalische Templerkloster am Auer Mühlbach. Giesing hat zwar kein Museum, aber dafür kann man sich jederzeit und für umsonst Street Art an der Candidplatz-Brücke angucken. Im Rahmen des Ois Giasing Stadtteilfest feiert die komplette Nachbarschaft einmal im Jahr, um Raum für Subkultur zu schaffen.
Das Viertel kann aber nicht nur Kulinarik aus aller Welt und Großstadt-Feeling, sondern punktet auf der anderen Seite auch mit viel Grün und Natur. Über 25 Prozent der gesamten Fläche von Untergiesing-Harlaching sind Grünfläche, hinzu kommen fünf Hektar Wasserfläche – damit gehört Untergiesing zu den Stadtteilen mit dem größten Erholungsanteil in München. Kein Wunder, denn wer hier zwischen Rosengarten, Auer Mühlbach und den Isarauen spazieren oder joggen geht, der fühlt sich weit weg von der Stadt, obwohl er ohne Probleme zum Marienplatz spazieren kann.
Aber auch Obergiesing hält jede Menge Erholung bereit: Der 30 Hektar große Ostfriedhof ist wenig besucht, zählt aber mit seinen Alleen und teils pompösen Gräbern – wie dem Mausoleum von Rudolph Moshammer – zu den schönsten der Stadt. Die Giesinger trifft man außerdem im Bar-Café Crönlein im Kronepark: Früher ein Klohäuschen, gibt es hier heute Spritz, Pizza und kleine Konzerte. Auch am Giesinger Grünspitz ist dank Kiosk-Café und Outdoor-Yoga immer etwas los. Außerdem vermietet der Green City e.V. hier Hochbeete, die nach Belieben bepflanzt werden können.
Neugierig geworden? In unserem Podcast-Format „Auf eine Runde mit ...“ geht unsere Autorin mit der Schriftstellerin Nina Sahm durch Obergiesing, die nicht nur ihre Tipps teilt, sondern auch erzählt, was sie an der Umgebung besonders mag. Sie können die Folge hier sowohl anhören als auch das Interview lesen.